Ruf der Heimat

– eine bewährte Band: Thomas Borgmann – reeds  ||    Christof Thewes – trombone ||  Jan Roder – bass  ||   Willi Kellers – drums

Dazu gibt es Einiges zu sagen und zu hören. Auf gehts.

Ruf der Heimat, Thomas Borgmann + Willi Kellers

Kühe, Vögel und vor allem ein Hund

Eigentlich wollte Saxofonist Thomas Borgmann nicht wieder in seiner Geburtsstadt Münster auftreten. Dann tat er es aber doch. Auf der Fahrt dorthin witzelte sein ebenfalls in Münster geborener Langzeitpartner, der Schlagzeuger Willi Kellers, etwas vom Ruf der Heimat. Sie wiederholten unterwegs immer wieder die drei Worte. Und plötzlich war der Bandname da. So könnte es gewesen sein. Seither ist „Ruf der Heimat“ für den deutsch-deutschen Jazz nach dem Fall der Mauer nicht nur einfach eine Band. Das Quartett ist eine Institution und als solche seit ihrer Gründung 1992 eine Legende. Mit Ernst-Ludwig Petrowsky als zweitem Saxofonisten und Christoph Winckel am Kontrabass waren sie paritätisch besetzt aus West und Ost. Und sie spielten einen absolut freien Jazz, bei dessen Aufführung sie doch nie vergessen haben, aus welchen Traditionen diese Musik geschöpft wurde. Große amerikanische Vorbilder wie Archie Shepp, Albert Ayler und die New Yorker Loft-Szene irrlichterten durch ihre Gedankenflüge, wenn sie Kurzweil in weiten Bögen zelebrierten und bald nicht mehr nur im größer gewordenen Deutschland ihr Publikum begeisterten.

Als „eine Melodien zulassende Improvisationsmusik, die Ornette Coleman’sche Themen genauso enthält wie den unbändigen Spaß an energiegeladener musikalischer Kommunikation: nirgends Kaputtspielen, dafür an jeder Stelle ein lebensbejahender Freudenschrei“, so feiert Wolfram Knauer, Direktor des Jazzinstituts Darmstadt, die fulminante Combo in seinem Buch „Play yourself, man!“ .

Ruf der Heimat - Secrets

Secrets ~ Ruf der Heimat ~ 26 Minutes Mix out of 85 live @ SpielRaum Saarbrücken, October 19th, 2019

jazzwerkstatt 202 | executive Producer: Ulli Blobel

Dann hebt er das selbstverständliche Nebeneinander von Einfachheit und Komplexität hervor, das bei ständigen Richtungsänderungen abrollt, bei dem aus unterschiedlichen Sozialisationen etwas unerhört Spannendes entsteht. Und es war immer wieder ein Ereignis, wenn Petrowsky zwischen den Stücken auch noch den launig wortgewaltigen Conferencier gab, nicht selten hintergangen von Thomas Borgmanns Hund, der über die Bühne wuselte, was der Journalist Josef Engels dahingehend deutete, dass freier Jazz eben doch keine Katzenmusik sei.

Nun endlich ist mit „Secrets“ eine neue Ruf der Heimat-CD erschienen. Gut 70 Minuten fintenreiche Musik voller Intensität und Hintersinn, die zum Spannendsten zählt, was der aktuelle deutsche Jazz hervorbrachte in diesen Tagen. Live aufgenommen im Spielraum Heiligenwald nahe Saarbrücken, präsentiert sich die Band mit Bassist Jan Roder und Posaunist Christof Thewes nach den gesundheits- und altersbedingten Ausstiegen von Petrowsky und Winckel in neuer Höchstform, und schnell ist klar, dass die beiden Neuen viel mehr sind als nur Auswechselspieler.
Zwei etwa halbstündige Piecen werden gefolgt von zwei kürzeren und wieder staunt man, wie logisch hier die freien Flüge wirken, als wäre nichts dem Zufall überlassen. Parallel legt Borgmann im Trio „Keys & Screws“ unter dem tiefstapelnden Titel „Some More Jazz“ mit Kellers und Roder noch so einen Geniestreich freier Musik vor. Gerade ist er 66 geworden, und immer noch und immer mehr sind seine Aufnahmen überzeugende Statements eines Musikers, den man sehr zu Unrecht auch weiterhin aus der Schublade Geheimtipp springen lässt.

Die Souveränität seiner weit ausholenden und ungemein schlüssigen Linien besticht und fasziniert. In Amerika ist Thomas Borgmann bekannter als hierzulande, in scheinbar orthodoxen Besetzungen zaubert er in langen improvisatorischen Bögen seine Musik, die wie beiläufig Dichte und Dringlichkeit entwickelt, die von seinen jahrzehntelangen Erfahrungen auf dem Feld des freien Jazz spricht. Sensible, gar nicht auftrumpfende überlegt überlegene Musik ist das.

Thomas Borgmann hat aufgenommen mit Peter Brötzmann, Wilbur Morris, William Parker, Denis Charles, Lol Coxhill und vielen mehr. Der Ton seiner musikalischen Erzählungen kommt her von Ahnen wie Sonny Rollins oder Frank Wright, doch hat er ihn bedachtsam und ohne zu eifern immer weiter verfeinert. Wie er sein Material logisch fortentwickelt, umspielt und zum Schwingen bringt, ist von ausgesuchter Grandezza und macht seine Stücke unverwechselbar. Wie sein Schlagzeuger Willi Kellers zelebriert er Detailschärfe voller überraschender Entwicklungen. Kellers ist ein Altvorderer des deutschen Free Jazz. „Einen der Größten unserer Musik in Europa“, so nannte ihn Cecil Taylor.

Borgmann und Kellers präsentieren ihre Kunst voller Tiefenschärfe und Spannung. Mit Jan Roder und Christof Thewes haben sie ideale Ergänzungen gefunden. Alles andere als wildes Drauflosspielen definiert die klug strukturierte, ungeschwätzige Ruf der Heimat-Musik. Es ist ein hohes Vergnügen zu verfolgen, wie sie ihr Material drehen und wenden. Das ist wie eine logisch plausible Durchleuchtung der langen Geschichte der freien Musik. Erworbene Fertigkeiten und daraus resultierende Sicherheit bestimmen ihre Dramaturgie. Das ist im mindestens doppelten Wortsinn erwachsene Musik.

Text: Ulrich Steinmetzger im SONIC Magazin